Donnerstag, 13. April 2017

Brief an Dich

Hey.

Ich verstehe, dass du verwundert bist. Ich bin es auch. Ich verstehe, dass du es nicht verstehst. Ich tue es auch nicht. Warum ich dir schreibe? Warum ich mich melde? Warum mir nach all der Zeit noch etwas an dir liegt?

Nun ja, lass uns nicht albern sein. Mir liegt nicht mehr wirklich etwas an dir. Ich denke in letzter Zeit nur oft an vergangene Zeiten zurück und frage mich, was wohl geschehen ist. Wir waren einmal Freunde, haben wir zueinander gesagt. Wir standen füreinander ein, nahmen uns Zeit füreinander. Stundenlang saßen wir am Computer, schrieben lange Nachricht für lange Nachricht, in denen wir uns unsere Seelen ausschütteten.
Ich glaube, damals dachten wir, das würde immer so sein. Dass alles, was wir zueinander sagten auch so gemeint gewesen wäre. Ich glaube, wir dachten, wir sind wirklich besser als D I E, weil wir hier sitzen und uns unsere Gedanken machen, während sie einfach ihr verschissen-schönes Leben leben.

Ich glaube, irgendwann haben wir beide verstanden, wie ungesund dieses Verhalten für uns ist. Dass wir nicht mit den Problemen des jeweils anderen umgehen können, wenn wir noch nicht mal unser eigenes Leben auf die Reihe kriegen.
Und so hörten wir irgendwann einfach auf.

Deine Nachrichten kamen seltener, meine Nachrichten blieben aus. Und aus einem Zwanzigzeiler wurde ein „Hey.“, ein „Ja, mir auch.“ und ein „Und sonst so?“
Ich glaube, wir haben irgendwann alle Worte verbraucht, denn mit sechzehn dachten wir zwar, wir hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen, dass alles schlechte auf der Welt uns bereits widerfahren war. Mit achtzehn dann merkten wir, dass das erst der Anfang war. Doch nach dem Superlativ gibt es keine Steigerung mehr und es konnte uns schon Jahre davor nur am beschissensten gehen und nicht am beschissestensten.
Ja, ich glaube, wir haben die Worte für das Leid schon lange aufgebraucht, bevor wir mit den Anforderungen des echten Lebens konfrontiert wurden. Was hätten wir uns noch sagen sollen?

Und trotzdem, hätte ich dich damals wohl gebraucht. Und sei es nur um zu wissen:„Ich bin nicht allein."
Freilich, heute führe ich ein gutes Leben und dir wird es wohl ähnlich gehen und ich wünsche dir das von Herzen.

Und dennoch frage ich mich häufig, wann das Ende begann. Als wir immer seltener schrieben? Oder mit den ersten Streits? Als wir begannen, gemeine Worte zu gebrauchen, wobei ich den Grund gar nicht mehr verstehe?

Ich glaube, damals dachte ich, du wärst der einzige Mensch, der mich versteht und ich wäre der einzige Mensch, der dich versteht. Heute scheint das alles so bedeutungslos zu sein. Und doch glaube ich, dass ich, wenn ich dich nicht gekannt hätte, heute ein anderer Mensch wäre. Dass mir so viel im Leben entgangen wäre, hättest du mich nicht darauf aufmerksam gemacht.

Du hast mir meinen Lieblingsfilm gezeigt, meinen Lieblingssong. Du hast mir gezeigt, dass die Welt noch etwas für mich bereit hält, auch wenn ich es nicht erwartet habe. Du hast mir gezeigt, dass ich etwas wert bin. Du hast mir gezeigt, dass ich ein Rettungsboot sein kann, und ich habe dich sicher durch manchen Sturm gebracht.

Ich glaube, im pubertären Überschwang haben wir damals einiges gesagt, was wir nicht so meinten. Was wir heute nicht mehr sagen würden. Aber heute ist es zu spät - und es ist gut wie es ist.

Ich habe mich ziemlich gemacht, weißt du? Ich habe mir manchen Traum erfüllt, ich habe eine Frau an meiner Seite, die atemberaubend ist. Ich bin ein ziemlich guter Musiker geworden.
Ich bin immer noch ziemlich tiefgründig und grüble zu viel, aber du wirst wohl nichts anderes erwartet haben.
Und ich trage jetzt Anzug, fast jeden Tag. Das hätten wir Schwarzträger, grauen Mäuse, Wallflowers wohl nicht erwartet.

Was du machst, weiß ich nicht. Wie du heute aussiehst, mit wem du deine Zeit vertreibst. Und ich glaube, ich möchte es auch nicht wissen, weil alles was heute ist, nicht mehr so intensiv sein kann, wie früher.

Weil wir gelernt haben, aus dem, worüber wir uns früher den Kopf zerbrachen. Wir haben gelernt, nicht mehr zu viel zu vertrauen, nicht mehr zu viel von uns preiszugeben, dass Freundschaft endlich ist. Dass die meisten Menschen die wir treffen nur kurze Wegbegleiter, Bekanntschaften auf einem schier unendlichen Lebensweg zu sein scheinen.
Und so wächst mein Bekanntenkreis immer weiter, während mein Freundeskreis zu schrumpfen scheint.

Und so bist auch du nur jemand, den ich irgendwann mal kannte. Und manchmal wünsche ich mir schon, es würde noch einmal anders sein. Dass wir das gleiche Gefühl beim Miteinanderschreiben bekämen wie damals. Doch wir kratzen an der Oberfläche, denn wir haben uns damals alles gesagt, allen Schmerz geteilt, der zu teilen war und heute könnten wir nur noch in Hyperlativen miteinander sprechen, die niemand von uns aussprechen will, weil wir uns doch ohnehin wieder entfremden werden. Also lassen wir das Leid in uns gekehrt und finden uns ab, damit, dass unser Leben, so wie es ist schon gut genug ist. Dass all das Leiden und Weinen, all der Neid auf die, denen es besser zu gehen scheint als uns, sinnlos sind.

Und wenn du mir irgendwann mal wieder schreibst, dann sag ich „Hey.“, „Na muss ja...“ und „Und dir?“, und ich bin genauso wenig an der Antwort interessiert wie du, nachdem du mir die Frage nach meinem Wohlbefinden stelltest. Und so bleibt es eine Farce, ein nettes Spiel, das wir spielen, aus Höflichkeit und Nostalgie.
Ich erinnere mich manchmal gern an diese Zeit und lasse unsere Bekanntschaft von nun an lieber ruhen. Manchmal würde ich gern den Moment vergessen, der aus der Freundschaft eine Bekanntschaft werden ließ, um dich eine rein positive Erinnerung sein zu lassen.

Aber irgendwie scheint aller Scheiß und alles Schöne, das wir erleben, uns zu prägen und ich glaube, du warst eine wertvolle Erfahrung auf meinem Lebensweg. Dafür möchte ich dir danken und dich wissen lassen, dass du einen Platz in meinen Erinnerungen verdienst. Doch diese möchte ich gern lassen, wie sie sind.

Du bist einige sehr wichtige Personen und ich weiß gar nicht genau, an wen ich diesen Brief adressieren müsste, wenn ich ihn irgendwann einmal verschicken würde, aber ich glaube, dass das gar nicht so wichtig ist. Viel wichtiger ist, dass ich diese Worte einmal loswerden konnte.

Denn selbst wenn du sie läsest, bliebe es bei einem „Hey, wie geht's?“ und irgendwann tut das einfach zu sehr weh.

Ich hoffe dir geht es gut. Ich hoffe, dein Leben ist heute genauso schön, wie das, das ich führe und dass das auch so bleibt.

Ich schicke dir freundschaftliche Grüße aus der Vergangenheit, die dich vermutlich niemals erreichen werden.


Dein B.